Autor: Benedict Wells
Bewertung:
Beschreibung: »Ich habe keine Angst vor der Zukunft, verstehen Sie? Ich hab nur ein kleines bisschen Angst vor der Gegenwart.« Jesper Lier, 20, weiß nur noch eines: Er muss sein Leben ändern, und zwar radikal. Er erlebt eine turbulente Woche und eine wilde Odyssee durch Berlin. Ein tragikomischer Roman über Freundschaft, das Ringen um seine Träume und über die Angst, wirklich die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Fazit: Ich habe mir am Anfang etwas schwergetan, in die Geschichte einzusteigen. Jedoch war die Story durch ein hin und her zwischen, »was bildet sich Jesper gerade ein« und »was ist die Realität« äußerst spannend gehalten. Ich glaube, viele Leute finden sich wieder, oder sollten sich, in den Problemen und Sorgen von Jesper, wieder finden. Das Buch regt einen zum Nachdenken über sein eigenes Leben und getroffene Entscheidungen an, so war es zumindest bei mir. Trotz der kleinen Probleme beim Einstieg in die Welt von Jesper, konnte ich das Buch nach den ersten paar Kapiteln nicht mehr aus der Hand legen.
Jede Altersstufe hat ihre eigenen Probleme. Die der 20jährigen durchlebt Jesper Lier, Hauptfigur von Benedict Wells Roman „Spinner“, in einer turbulenten Woche in Berlin, in der ihm sein ganzes Leben zu entgleiten droht.
Jesper haust in einer heruntergekommenen Kellerwohnung und versucht sich an seinem Erstlingsroman. Nachdem er vor einem Jahr fast alle Kontakte abgebrochen hat und direkt nach seinem Abitur von München nach Berlin zog, steht sein Monstermanuskript „Der Leidensgenosse“ nun kurz vor der Fertigstellung. Alle Hoffnung hat er in dieses Werk gesetzt und sich selbst kaum geschont. Ganz im Gegenteil vernachlässigt er sich in Form nächtlichen, häufig betrunkenen Schreibens, schlechten unregelmäßigen Essens, und jetzt befindet er sich gar auf Schlaftablettenentzug. So ist von den Träumen und Plänen, die ihn anfangs noch begleiteten, nicht mehr viel übrig geblieben. Es verwundert kaum, dass sein soziales Leben dabei auf der Strecke bleibt. Die einzigen Ausnahmen sind sein Praktikum beim Berliner Boten, die wöchentlichen Anrufe bei seiner Mutter, sein schwuler Freund Gustav und plötzlich auch wieder sein alter Freund Frank.
Jespers Probleme haben vielschichtige persönliche Ursachen, in die der Autor nach und nach rückblickend einführt. Da sind zum Beispiel der Tod seines Vaters oder die Beziehung zum Ersatzvater, dem emeritierten Professor aus dem Münchner Nachbarhaus, der für ihn ein wertvoller Ansprechpartner gewesen ist. Auch Biehler, sein Zeitungschef, Gustav und eigentlich alle männlichen Personen, mit denen er Umgang hat, scheinen für ihn Vaterfiguren darzustellen, denen er sich unterordnet wie ein kleiner, leidender, unreifer Junge.
Der Roman verdichtet die Handlung auf den Zeitraum einer Woche, in der Jesper immer weiter abdriftet, bis der Zusammenbruch unausweichlich ist. Er hangelt sich von Party zu Party, mit mal mehr und mal weniger großem Alkoholkonsum. Frauen, die er begehrt, lassen ihn links liegen. Der Schlaftablettenentzug gibt sein Übriges dazu, dass Realität und von seinen Romanfiguren durchsetzte Fiktion für ihn und auch den Leser immer weiter verschwimmen.
Es fällt leicht, sich die Situationen, in die Jesper gerät, zu vergegenwärtigen, ausgelöst durch die Ich-Perspektive und die witzige Sprache. Auffällig sind auch die Wechsel in den Jugendjargon und die direkten Ansprachen an den Leser: Man durchlebt Jespers Gefühlsachterbahn mit. Der Protagonist steht an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt, und Entscheidungen, die getroffen werden müssten, hätten weitreichende Folgen. Doch es bleibt bis zuletzt unklar, ob Jesper sich endlich entschließt, sein Leben in die Hand zu nehmen und nicht in schicke Depressionen zu fliehen, die ihm in der Tradition großer Literaten gut zu Gesicht stünden.
Wells hat hier in einer authentischen Erzählweise ein tragikomisches, durchgängig ironisches Buch geschrieben, in dem sich, dank der Parallelen zum Protagonisten, autobiographische Hintergründe vermuten lassen. Es geht dem Autor jedoch nicht um seine persönlichen Erfahrungen, sondern „um das Loch, in das du als junger Mensch mit Anfang 20 fällst.“ Wells Buch steht ganz in der Tradition des Adoleszenzromans. So befindet sich Jesper ähnlich wie Holden Caulfield im „Fänger im Roggen“ auf einem Taumel durch die Nacht der Großstadt, und wie auch im Roman des vor kurzem verstorbenen Salinger kann am Ende keine gelungene Integration in die Gesellschaft stehen. Ganz im Gegenteil regrediert Jesper und geht mit seiner Heimreise nach München eher einen Schritt zurück.
Obwohl Jespers Erlebnisse sich in der geschilderten Woche zuspitzen und er auch Berlin nicht eben positiv wahrnimmt, wird doch ein lebendig pulsierendes, facettenreiches Bild der Stadt gezeichnet. Berlin erscheint darin als ein Knäuel voll miteinander verflochtener Existenzen, die häufig verrückt wirken, und es scheint schwer zu sein, in dieser Metropole einen Platz zu finden.
„Spinner“ ist nach „Becks letzter Sommer“ das zweite Werk des noch jungen Autors. Der Gewinner des Bayrischen Kunstförderpreises 2009 hat damit erneut einen sehr erfrischenden, kurzweiligen und persönlichen Roman vorgelegt. Ob „Spinner“ es in der Handlung mit seinem zeitgleich geschriebenen Debüt aufnehmen kann, ist zu diskutieren, lesenswert ist der Roman auf jeden Fall und macht Hoffnung auf weitere Werke von Benedict Wells.
Quelle: Uni Köln